Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt.
Gertrude Stein
Sprachgeschichtliches
Ich beginne mit ein paar sprachgeschichtlichen Erläuterungen der Wörter "Netz" bzw. "Netzwerk":
Das "Etymologischen Wörterbuch des Deutschen" von Wolfgang Pfeifer (1. Auflage 1989) erläutert "Netz" im Sinne von Konkreta, nämlich a) Textilien, b) Spinnennetz oder c) Fischernetz, abstrakt ist die Rede von einer "Gesamtheit vieler sich kreuzender und voneinander abzweigender Verbindungen" (920); der Begriff "Netzwerk" kommt darin nicht vor.
Der "Deutsche Wortschatz" von Wehrle-Eggers von 1961 führt "Netzwerk" in der Rubrik "Raum" und in der Unterrubrik "Durchkreuzung". "Netzwerk" steht hier in einer Gruppe von Wörtern, die von Alltagsleben und Fischereihandwerk geprägt sind, so etwa Haarnetz und Einkaufsnetz, Schleppnetz und Hängematte. Einen eigenen Zusammenhang hat "Netzwerk" mit der Netzhaut, der Retina, und verweist so auf Sinnenphysiologie und also Ästhetik. Dann führt der Wehrle-Eggerts einen umfangreichen infrastrukturellen Zusammenhang des Transports auf: Verkehrsnetz, Straßennetz, Liniennetz, - und zuletzt einen infrastrukturellen Zusammenhang mit Massenmedien: Radionetz, Rundfunknetz, allgemein: Sendenetz. - Man bemerke, dass das Wort "Netzwerk" hier nicht, wie so oft in unserem heutigen Sprachgebrauch, in irgendeinem soziologischen Sinne verwendet wird,
Der Duden von 1967 hat "Netzwerk" überhaupt nicht. Im Deutschen
Universal-Wörterbuch von 1989 werden Netzwerke gebildet durch "Leitungen,
Drähte, Linien, Adern o.ä.", schließlich auch im übertragenen,
im soziologischen Sinn, nämlich von "Mikroorganismen, Molekülen,
Angaben, Beziehungen"; als Beispiel wird "das linke Netzwerk der Partei"
angeführt. Zur gleichen Zeit, 1990, verwendet Meyers großes
Taschenlexikon das Wort ausschließlich als schalttechnischen Begriff.
Networking und Forschungsteams
In einem Netzwerk arbeiten Menschen zusammen, sie teilen sich Ressourcen und Wissen. Und sie konkurrieren miteinander. Diese Prozesse haben sich in wenigen Jahrzehnten enorm beschleunigt und eine neue Qualität erlabgt. Diese Veränderung ist wesentlich durch die Präsenz des Computers geprägt worden, - über die Mainframes der 50er und 60er Jahre zu den PCs der 70er Jahre und einer enormen Popularisierung des Internets in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Datenfluss ließ neue Ökonomien entstehen und neue Formen der menschlichen Kommunikation, und nicht zuletzt die sogenannte Globalisierung.
Einer enormer Schub für das Instrumentarium der Wisssenschaft war eine der Folgen des Computers und der Möglichkeiten von z.B. Simulationen. Hiervon profitierte beispielsweise die Biologie, deren Mikro- und Makroorganismen einer digitalen Analyse zugänglich wurden. Insbesondere Heuristik hat dabei quantitativ und qualitativ gewonnen, man denke etwa an die Arbeit von Craig Venter und seiner ehemaligen Firma Celeron.
[Die Struktur der D N A legt nahe, daß die sogenannte Natur des Menschen sehr viel digitaler ist als man es bisher schon ahnte. Neuere Evolutionstheorien wissen, daß unser ICH selbst, wenigstens zum Teil, aus einem Netzwerk von Mikroorganismen hervorgegangen ist.]
NAMEN wie Craig Venter sollten aber nicht davon ablenken, dass die bedeutenderen Fortschritte in den Wissenschaften inzwischen fast nur noch von Kollektiven erzielt werden (können). Immer öfter gehen Nobelpreise nicht an Einzelpersonen, sondern an Forschungs-Teams. Anders als in Teams ist den rasch - und parallel zu den Möglichkeiten des computergestützten Instrumentariums - wachsenden Komplexitäten der zu untersuchenden Phänomene gar nicht mehr zu begegnen.
Der Gedanke drängt sich auf, dass ähnliche Entwicklungen früher
oder später auch für die Wachstumsspitze in der Bildenden Kunst
bestimmend werden müssen. Vielleicht haben sie es bereits getan? -
Es sei mir ein kurzer Ausflug in die Kunstgeschichte gestattet.
Kunstgeschichtlicher Exkurs: Die Erfindung des Genies
Bekanntlich war ja bis ans Ende des Mittelalters alles furchtbar dunkel, so dunkel, dass man Individuen in den Kollektiven, die beispielsweise Kathedralen bauten, gar nicht erkennen konnte. Wie Ernst H. Gombricht in seiner populären "Geschichte der Kunst" schreibt:
"Natürlich lebten auch früher Meister, die allgemein geschätzt und von Kloster zu Kloster oder von Bischof zu Bischof weiterempfohlen wurden, aber im großen ganzen fand man es nicht notwendig, die Namen der Meister der Nachwelt zu überliefern. Man betrachtete sie wie wir einen guten Tischler oder Schneider. Auch den Künstlern selbst lag wenig daran, bekannt oder berühmt zu werden. Oft signierten sie nicht einmal ihre Arbeiten. Wir kennen die Namen der Meister von Chartres, von Straßburg oder von Naumburg nicht. Sie waren gewiß zu ihrer Zeit geschätzt, aber sie überließen den Ruhm und die Ehre der Kathedrale, an der sie arbeiteten." (205)
- Ob sich das tatsächlich so verhielt, wissen wir nicht. Vielleicht gar es die Idee der Signatur, aber vielleicht war sie von der Kirche verboten. Und ob sich signierte Individualkunst z.B. an weltlichen Orten wie etwa Burgen fand, wissen wir nicht, weil sie, wenn, dann mit diesen Burgen in zahllosen Kriegen vernichtet wurde.
Erst Anfang des 14. Jahrhunderts änderte sich die Lage. Mit Giotto di Bondone (ca. 1267-1337) und seinen Fresken von Padua tauchte erstmals ein NAME auf, ein "Maler-Star", dem individueller Ruhm zugemessen wurde und für dessen Privatleben sich das Publikum interessierte. In Prag zu Ende des 14. Jahrhunderts war der Dombau-Meister Peter Parler der Jüngere (1330-1399) vielleicht der erste Künstler, der ein Selbstporträt hinterließ.
Im Licht und Laufe der Renaissance tauchten dann immer mehr Individuen auf. - Die Maler waren es irgendwann leid, wie Tischler oder Schneider als Handwerker betrachtet zu werden. Sie versuchten, den engen Zwängen der Gilden zu entkommen. Dabei spielte ein handfestes Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg und wirtschaftlichen Vorteilen eine wesentliche Rolle.
Zu Anfang des 15. Jahrhunderts galten Maler allerdings noch nicht als Künstler. Wie Stefan Heidenreich in seinem Buch "Was verspricht die Kunst?" darstellt, galt als Künstler jemand, der die freien Künste studiert hatte, die artes liberales, ihrerseits unterteilt in Trivium (Grammatik, Rhetorik und Dialektik) und Quadrivium (Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik). Ein Künstler oder Artist war also jemand, der ein Grundstudium absolviert hatte, worauf dann höhere Studiengänge wie die der Jura oder Theologie und somit angesehene gesellschaftliche Karrieren folgten.
Künstler im heutigen Sinne und im speziellen Maler waren Handwerker, die mal der Gilde der Waffenschmiede, mal der Gilde der Ärzte und Apotheker, mal den Geschirrmachern und Kesselflickern zugeordnet wurden. Handwerker generell standen allenfalls die artes mechanicae offen, die Lehre von praktischen Fähigkeiten, die die Griechen techné genannt hatten. Das Streben der Maler, als Artisten - Künstler zu gelten, bezog sich aber stets auf den Versuch, die höheren Studiengänge der artes liberales zu belegen oder einen vergleichbaren Status zu erringen. Wenn wir heute den Begriff "Künstler" verwenden, so ging er aus einer Bewegung hervor, in der es die Maler offensichtlich für notwendig hielten, sich gezielt von der techné bzw. den artes mechanicae der Zunft-Handwerker abzugrenzen und sie zu verachten. Die Individualisierung zum Künstler im modernen Sinn wurde bezahlt mit einem Ressentiment gegen Technik, die ihm noch heute vieles entgehen läßt.
Wir finden die ersten Künstler im modernen Sinne wieder als Angestellten bei Hofe, der sich und seinem Tun neue Legitimation verschaffen muß. Zuvor waren Bilder als handwerkliche Produkte standardisiert, die - zumeist der kirchlichen Folklore entstammenden Motive - wurden von den Auftraggebern vorgegeben, der Wert der Bilder wurde im wesentlichen im Wert ihrer Materialien bemessen. Von solcher Bewertung ihres Tuns wollten sich die Maler lösen, nicht der Goldpreis und von den Zünften festgelegte Standards sollten den Wert ihrer Bilder bestimmen, sondern die Erfindungsgabe und Originalität und nicht zuletzt der Ruhm des jeweiligen Malers. Die Maler lernten, sich zu inszenieren, sich von Aura und Geheimnis zu umgeben. Das Starsystem und die PR des Selbst traten als neue wichtige Faktoren in die Kunstgeschichte ein.
Mit Ende des 15. Jahrhunderts hatte sich der Künstler endlich aus dem Dunkel der mittelalterlichen Dombau-Kollektive befreit und sich einen "Namen" gemacht. Als Michelangelo zum Beispiel einmal einen Brief erhielt, der an den "Bildhauer Michelangelo" adressiert war, schrieb er: "Sagt ihm, daß er seine Briefe nicht an den Bildhauer Michelangelo adressieren soll, denn hier kennt man mich nur als Michelangelo Buonarroti." (Beispiel nach Gombrich 315)
Es folgt eine, mehrere Jahrhunderte lange, Geschichte des Individualkünstlertums
inklusive Geniekult, Malerfürsten und Künstlerkriegen, und mit
so hübschen Höhepunkten wie der Verwandlung eines Flaschentrockners
in ein Kunstwerk per Signatur Marcel Duchamp. Wobei die meisten Namen wohl
auch deswegen auf uns gekommen sind, weil es sich bei den Unterschriften
in Wirklichkeit um Firmenlogos handelte, Brands, für die oft genug
eine ganze Werkstatt schuften mußte, oder auch gleich eine Factory,
wie der Körper zu einem dieser Brands das später mal genannt
hat.
Nichtdigitale Kollektivkunst
In der Moderne gab es immer wieder Künstlergruppen wie den Blauen
Reiter oder die Fauves. Sie hatten gewisse gemeinsame Programmatiken und
man tauschte sich aus, aber selbst, wenn dort gemeinsam gemalt worden sein
sollte, signiert wurde doch immer vom einzelnen Künstler. Weit weniger
als Kollektive waren es auch hier Brands, die promotet wurden, bis der
individuelle Name als Brand trug.
Die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts sahen viele interessante Versuche,
kollektiv Kunst zu machen. Genannt seien etwa der Wiener Aktionismus und
Fluxus. Im besonderen die Form des Happenings war ein starker Schritt in
eine Kunst, die sich von traditionellen Materialien und individuell signierten
Zuteilungsformen zu lösen versuchte. Der statische Fetisch des künstlerischen,
auf den Kunstmarkt zugeschnittenen Artefakts geriet in Bewegung, auch wenn
die Künstler dieser Zeit wohl nur in Ausnahmefällen (Ira Schneider,
Radical Software) ahnten, was zu gleicher Zeit an den Mainframes von IBM
und RAND Corporation ausgeheckt wurde. Dort saß man gemeinsam an
monströsen Maschinen und teilte sich die wertvolle Rechenzeit, um
ein paar - aus heutiger Sicht ziemlich mickrige - Kilobyte Daten zu bearbeiten.
Maler und Computer
In den 70er Jahren wurde der Personal Computer, der PC eingeführt.
Die wenigen Künstler, die damit zu arbeiten begannen, galten in der
Kunstwelt als Exoten, wenn nicht sogar als Idioten, denen von den Malern
vorgeworfen wurde, das wahre Wesen der Kunst zu verkennen. Umgekehrt hatten
die Maler wohl keine Idee, was die Künstler trieben, die sich im Laufe
der 70er und 80er Jahre auf damals noch sehr maschinennahe Programmierumgebungen
einließen und sich zum Teil auch schon das Internet als Ort ihrer
künstlerischen Produktion entdeckten. Wo es nicht sowieso Hackergruppen
waren, die anfingen sich künstlerisch zu betätigen, machten die
Knappheit der Ressourcen und die Komplexität der Materie es dennoch
notwendig, Gruppen und Netzwerke zu bilden, in denen sich unterschiedliche
technische und ästhetische Begabungen verbinden konnten.
Oberflächendesigns wie das des Betriebssystems von Apple Macintosh bestimmten dann ab Mitte der 80er Jahre, was z.B. auf der vorgestern erschienenen Site des Digital Art Museum (www.dam.org) als "The Paintbox Area" (1986-1996) bezeichnet wird. Immer mehr sogenannte benutzerfreundliche Programme - etwa für Grafik und Design - standen zur Verfügung, und sie erforderten keine tieferen Kenntnisse des Programmierens mehr. Scanner und zahlreiche andere Peripheriegeräte standen zur Verfügung und erlaubten nicht raffiniertere Techniken der Bildbearbeitung. Der PC verbreitete sich in stets noch steigenden Raten über die wissenschaftlichen Institute in die Geschäftswelt und in die privaten Haushalte. Zudem zog in vielen Wissenschaftsbereichen wie Philosophie oder Psychologie das Computer-Paradigma Einzug und brachte hier Ansätze zur Bestimmung der Conditio humana von einer Trennschärfe hervor, von der Jahrtausende von Menschheitsgeschichte nie auch nur geträumt hatten.
Einstweilen verharrte die traditionelle Bildende Kunst in ihrem Dornröschen-Schlaf.
Der massive Boom des Internets ab spätestens 1996 führte zu einer weiteren Popularisierungswelle des Computers und seiner Anwendungen und machte so ziemlich jedem klar, dass hier eine Erfindung in die Welt getreten war, die keinen Bereich des Lebens unberührt lassen würde. (Länder der Dritten Welt hier mal ausgeklammert.)
Wie ging der in der Renaissance designte Typus des Individualkünstlers, mittlerweile auch in Form des Akademie-Professors anzutreffen, mit dem Phänomen um? - Im großen und ganzen gar nicht! Ein Vierteljahrhundert hatte der traditionelle Bildende Künstler eine massive technische Revolution allenfalls von ferne wahrgenommen und im übrigen total verpennt!
Warum diese Ignoranz? War das einfach ein Zufall? - Ich behaupte, daß sich hier schlichtweg das alte Ressentiment wider die techné tradiert hat, das in der Renaissance für die (Selbst-)Erfindung des Individualkünstlers konstituierend war.
Man sollte denken, das ist an sich auch gar nicht so schlimm. Schon in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde manche bedeutende technische Erfindung von der Bildenden Kunst ignoriert und ausgesessen. - Allerdings ist der Computer nicht einfach ein weiteres Medium wie Telegraf, Fernsehen oder Handy. Der Computer ist eine universelle Maschine, von deren Fähigkeiten und Möglichkeiten wir Zeitgenossen bislang nur ein paar Eisbergspitzen gesehen haben.
Vielleicht merkte man als Maler halbbewußt, dass hier etwas im Gange war, das die eigene Position massiv unterwanderte? Hatten die Maler vielleicht vor irgendetwas Angst? - Ich zitiere Peter Weibel von 1991, [aus etwas anderem Zusammenhang]:
"Die von technischen Medien erzeugten Diskursformen der Kunst, insbesondere die Kunst des bewegten Bildes, widersetzen sich den ästhetischen Kategorien der klassischen Systeme. Die Transformationen der Kunst durch die technischen Medien setzen genau bei den Schlüsselbegriffen dieser Ästhetiken an: Originalität, Werk, Autor, Schöpfer, Wahrheit, Ding, allgemein, Sein, etc. Jeder dieser Begriffe wird in der technischen Medienkunst aufgehoben, negiert und durch einen anderen ersetzt: Statt Statik Dynamik, statt Sein Prozess, statt absolut relativ und statt allgemein partikulär. Statt Originalität technische Reproduzierbarkeit, Appropriation, und Simulation, statt Autor Kollektiv, Maschine, Text, statt Wahrheit Verifikation und Virtualität, statt Ding Medium, statt Material Immaterialität, statt Realität Fiktion. Statt Sein und Realität nur Zeichen, Fiktion, Simulation." (Weibel 1991, S. 242)
Durch die Existenz des Computers (und weiterer, immer noch so genannter
Neuer Medien) haben sich offensichtlich "zwei Kulturen" in der Kunst ausgebildet:
hier die des Einzelkünstlers vom Renaissancetypus, der seine materiellen
Artefakte schafft - dort die computergestützter Kollektive, für
die Artefakte tendenziell schon überhaupt keine Rolle mehr spielen.
Hier der Individualist, der Authentizität beschwört (und zwar
genau die Authentizität seiner Individualität!), und die Legitimation
dieser Authentizität gründet sich letztlich auf seiner Signatur;
dort Zusammenschlüsse von Künstlern, die sich an Prozessen erfreuen
und unter Umständen keinen Wert darauf legen, daß diese Prozesse
jemals zu einem Ende kommen. Allerdings sind Computer-Kollektive keine
Sekten, Individuen gehen nicht einfach darin auf und, zumindest intern,
bleiben sie innerhalb dieser Kollektive durchaus zu erkennen. Es kann durchaus
Lust bereiten, auf die Zementierung eines sogenannten authentischen Subjekts
zu verzichten und stattdessen eine Vielzahl von Rollen im Netzwerk auszuprobieren,
sich als multiples Subjekt zu erfinden und sich mehrere Authentizitäten
zuzulegen. Letzteres dürfte übrigens auch kein unwesentliches
Motiv für diejenigen Künstler gewesen sein, sich auf Netzwerk-Kunst
zu stürzen, deren Signatur nicht für die Subjektivität eines
weißen heterosexuellen Euro-Amerikaners steht - um hier nur mal das
von Frauen betriebene und relativ bekannte Old Boys Network zu nennen.
(Siehe hierzu generell: Sherry Turkle, Leben im Netz, Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 1998)
Kunstmarkt
Ein Faktor, den man im Diskurs um Individual- und Kollektivkunst nicht
vergessen sollte, ist der Kunstmarkt. Die mitunter erschreckende Konservativität
der traditionellen Bildenden Künstler ist oft einfach nur die Konservativität
ihrer Sammler. Die Sammler sind es, die dafür sorgen, daß mediale
Entwicklungen oft um Jahrzehnte verspätet auf dem Kunstmarkt ankommen.
Es ist ja kaum zu glauben, aber Fotografie beispielsweise gilt - mit ganz
wenigen Ausnahmen - noch keine zehn Jahre als sammelwürdige Kunst,
Videokunst - auch mit ganz wenigen Ausnahmen - seit vielleicht drei Jahren.
Die Entwicklung wird behindert durch eine Sammlergeneration, die vielleicht zu alt geworden ist, um sich an den Umgang mit neuen Medien noch zu gewöhnen. Sie klebt an Auratik und Objektfetischismus des Einzelstücks, insbesondere des Tafelbilds.
Kann man auf eine jüngere Sammlergeneration hoffen? - Sie erlebt freilich den Rechner den ganzen Tag im Büro, und wenn dann Feierabend ist, soll Kunst das Ganz Andere sein. Nach all dem Geflimmer soll Ruhe herrschen - wie mir der Galerist Iwan Wirth mal sagte, dürfte aus solchen Motiven etwa das seit einiger Zeit verstärkte Interesse an Minimal Art resultieren.
Einstweilen drängt der Kunstmarkt in Form von Galeristen, Journalisten, Kuratoren, Professoren die Künstler darauf, ihren Namen zu einem Brand zu machen und den Objektfetischismus der Sammler zu bedienen. Ein Computer-Medien-Projekt, wenn es denn zum Objekt auf dem Kunstmarkt würde, bestünde aus prinzipiell kopierbaren und vielleicht schon kopierten Dateien. Wie stünde es um Websites im Internet? Wer möchte die vielleicht hochintelligente, aber dennoch schließlich unsignierbare Arbeit eines Künstlerkollektivs, von der Ungreifbarkeit und der begrenzten Dokumentierbarkeit einer Performance?
Eine Frage an den Kunstmarkt wäre, ob er an ästhetischer Komplizierung interessiert ist, also an einem inhaltlichen und durchaus auch formalen Fortschritt von Kunst und ihrer Rezeption. Solche Komplizierung wäre eine wechselseitige Vertiefung und Komprimierung von Hierarchien aufeinander aufsetzender Programme, ob diese nun in menschlichen Köpfen oder auf Computern liefen. Es bedürfte immer größerer Speicherkapazitäten, um auf dem Stand einer stets und exponentiell wachsenden Menge von Kunstwerken und ästhetischen Theorien zu sein. Hier muss schließlich die Kapazität eines einzelnen Künstlers überschritten werden und die Vernetzung mit anderen Künstlern und mit Maschinen stattfinden.
Übrigens erwies es sich auch bei komplexer werdenden Werken konventioneller
bildender Kunst zunehmend als notwendig und erwünscht, in kollektiven
Kooperationen (und mit geteilten Ressourcen) zu arbeiten, um ästhetische
Fortschritte erzielen zu können. Ich denke hier an Brands wie beispielsweise
Jeff Koons, Damian Hirst oder Pipilotti Rist.
Exkurs "labs"
Die neuen künstlerischen Arbeitsweisen der elektronischen Künste
haben sich inzwischen in, neben und um den offiziellen Kunstbetrieb der
Akademien, Galerien und Museen herausgebildet. Die Medienkunst als klassisches
Prinzip in arbeitsteiliger Produktion und die audiovisuellen Künste
nebst ihrer narzistischen Herangehensweisen an unterschiedliche Materialien
fanden darin ebenso Eingang wie Verfahrensweisen aus unterschiedlichen
gesellschaftlichen Disziplinen.
In Jahren haben sich in vielen Metropolen Medienkünstler und Programmierer zu Institutionen verbunden, die wir im folgenden kurz "labs" nennen wollen: Orte, die durch lokale Netzwerke zusammengeschlossen sind und an denen an der technischen Wachstumsspitze von Kunst und Wissenschaft gearbeitet wird. In Berlin sind das z.B. das bootlab, das codelab und unsere jüngere Gründung: das travellab, von dessen Praxis wir später noch ein wenig sprechen werden.
Teils liegt der Akzent der labs auf Kunst, wie sie auf Festivals (z.B. ars electronica in Linz) oder in wenigen spezialisierten Museen (ZKM, Karlsruhe) gezeigt wird, teils im Bereich von interdisziplinärer und von Grundlagenforschung. An den labs treffen oft untypische Biografien aufeinander, Künstler, Informatiker, Grafiker, Medientheoretiker etc. - Menschen, die über hohe theoretische und praktische Qualifikationen verfügen und an avancierten Projekten arbeiten. Solche Projekte sind oft langfristig und zeitintensiv angelegt und besitzen experimentellen Charakter; sie entziehen sich häufig den üblichen, auf raschen Konsum ausgerichteten Verwertungsmechanismen. So halten labs meist sehr bewußt auf kritische Distanz zu Industrie und den großen Kultur- und Bildungsinstitutionen, auch, weil man sich häufig stolz als technische, ästhetische und/oder epistemologische Avantgarde versteht. Das schließt punktuelle Kooperationen aber nicht aus, besonders auch, weil man bemüht ist, technisch auf dem jüngsten Stand zu sein, und weil die Budgets von Medienkunstprojekten leicht in den fünf-, sechs- und siebenstelligen Bereich geraten. Sponsorierende Firmen sind umgekehrt interessiert an spin offs und der Entwicklung von Anwendungen für ihre Technologien. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch der Chaos Computer Club, der - auch wenn man ihn nicht als prototypisches Lab bezeichnen kann - bei zahlreichen großen Konzernen wie etwa der Telekom beratend tätig ist.
Die Organisationsstruktur der labs ist zumeist informeller und sehr individueller Natur, an die Stelle von Hierarchien tritt networking, man weiß, wer im Bedarfsfalle mit Wissen und Ressourcen aushelfen kann, und ist umgekehrt zu solcher Hilfe bereit. Damit sind labs auch prototypisch für die entstehenden neuen Arbeitswelten im Übergang von der Industrie- zur Servicegesellschaft. Medienkunst - in ihrer avancierten Verbindung von kreativen mit technischen Aspekten - kann ohne networking gar nicht entstehen, und es ist interessant, hier verschiedene, eben zumeist unhierarchische und fluktuierende Organisationsstrukturen zu analysieren und zu vergleichen.
Netzwerk-Künstlergruppen erweisen sich dabei als Gebilde hoher, eben die Kompetenz eines einzelnen übersteigender Komplexität. Es ist nicht notwendigerweise, aber prinzipiell eine Qualität in der künstlerischen Arbeit möglich, die einem einzelnen, krampfig auf sein Brand und seine "Position" bedachten Künstler verwehrt bleiben muß. -
Dabei muß der einzelne innerhalb der Gruppe bereit sein, sich zu einem aktiven Modul von etwas zu machen, daß auch er selbst nicht unbedingt in seiner Gänze überschaut. Hieraus kann durchaus auch wieder ein kreatives Moment erwachsen, verbunden mit der Notwendigkeit, mehr zu lernen, und der Möglichkeit, dies unmittelbar bei anderen zu tun.
Spätestens hier spielt Kommunikation in den Labs eine sehr große
Rolle. Wer programmieren gelernt hat, hat auch gelernt, Gedanken und Konzepten
eine gewisse - um den cartesischen Ausdruck zu verwenden - Klarheit und
Deutlichkeit zu geben und sie dann auch sprachlich wiederzugeben. Ständige
Email-Gewitter in den labs, die Präsenz anderer im selben Raum (und
sei's ein Chatroom) und eloquente Zusammenkünfte auf Medien-Festivals
sind das Gegenteil des ewigen "Je ne sais quoi", und sie sind das Gegenteil
des einsam in seinem Atelier wirkenden Künstlers, der, wenn er auf
seinesgleichen oder auf seine Galeristen, Kritiker, Sammler, Kuratoren
trifft, einer Sprech- und Denkzensur unterliegt, die von der Absicht bestimmt
ist, den Kunstmarkt mit seinen Artefakten und dem Brand seines Namens zu
penetrieren. Der Talk der Vernissagen ist ziemlich small.
Künstler-Ausbildung heute
Nachdem ich hier an einer Kunst-Universität spreche, möchte
ich abschließend noch ein wenig über die Frage spekulieren,
was all das für die Ausbildung von Künstlern bedeuten könnte.
Wird vom Renaissance-Menschen gesprochen, ist oft auch ein Typus gemeint, der das ganze Wissen seiner Zeit in allen Bereichen überschaut und dort hinreichend kompetent ist. "Universal-Genie" heißt das unvermeidliche Schlagwort. Nach dem, was ich oben gesagt habe, war es aber für den Renaissance-Künstler nachgeradig konstituierend, der techné so weit wie möglich abzuschwören. Künstler, Auch-Künstler wie Leonardo da Vinci waren meines Erachtens eher die Ausnahme.
Die Generation, die jetzt in Deutschland in Form von Professoren der Bildenden Kunst auftritt, hat den antitechnischen Gestus durchaus verinnerlicht. Mit neueren Medien hat sie sich, wenn überhaupt, oft nur in Form des Anti beschäftigt, etwa im Zerschlagen von Fernsehern (um ein Beispiel zu konstruieren). Nam June Paik meine ich damit übrigens nicht, der schon 1969 in New York Ausstellungen gemacht hat mit so schönen Titeln wie "TV as a Creative Medium").
Für die zur Zeit professorierenden Professoren sind Computer und Internet in der Regel eher etwas Quälendes. Vielleicht haben sie Angst, ihren Rechner mit Ölfarbe zu bekleckern, aber oft erscheint es geradezu umgekehrt, und es flößt ihnen der Rechner irgend Angst ein, vielleicht eine Angst vor dem Individualitätsverlust ihrer selbst oder ihrer Pinselquälerei. - Die Vorbilder ihrer Jugend mögen gestorbene Künstler von großem Rang und Namen gewesen sein, und sie wurden Professoren, weil sie selbst Rang und eben einen gewissen Namen erworben haben. Sie würden noch ihren eigenen Arsch signieren, wenn das nötig wäre ihre Individualität zu betonen und zu behaupten.
Während Rentner inzwischen die Vorteile des Computers und die Möglichkeiten des Internets zu schätzen lernen, verhalten sich traditionelle Kunstprofessoren oftmals phobisch gegenüber Technik.
Das antitechnische Ressentiment im Namen eines Namens hat sich zwar manchmal durchaus auch auf ihre Schülergeneration vererbt, und es gibt tatsächlich noch Kunststudenten, die keine Email-Adresse haben.
Gleichzeit ist die neue Generation von Anfang an mit dem Computer aufgewachsen, und insofern hat ihr Umgang mit ihm eine Selbstverständlichkeit, die ihren Professoren vielmals fremd ist.
Diese Kluft beginnt sich erst allmählich zu schließen. Die Akademien reagieren aber auf die Präsenz des Computers noch immer mit einer Trennung: Dort die Computer-Leute, die Medien-Bindestrich-Künstler, die Grafiker und Kommunikationsdesigner, Techno-Getto! Hier aber die reine oder - manche sagen auch: freie Kunst. Kunst-Bindestrich-Kunst-Ghetto!
Solche Trennungen kommen mir zunehmend ulkig vor. Man bedenke, dass zu Renaissance-Zeiten die Türen zur damals avanciertesten Ingenieur-Wissenschaft, der Architektur, wenigstens prinzipiel offenstanden.
Computersimulationen zum Beispiel könnten auch Disziplinen wie Malerei oder Bildhauerei sehr von Nutzen sein, indem man beispielsweise Farb- oder räumliche Kompositionen ausprobiert, bevor man sich an den Verbrauch realer, physischer Materialien macht. Damit sind traditionelle Bildfindungsmethoden wie die Bleistiftskizze nicht obsolet, aber doch um gigantische Faktoren in ihren Möglichkeiten erweitert. Es fragt sich, warum solche Möglichkeiten der Bildheuristik nicht genutzt werden. Neben dem Malkasten könnte man sich ja auch noch eine Laptop einpacken.
Freilich erzeugen diese Techniken auch Unendlichkeiten möglicher Bilder, die manchen schwindeln machen könnten. Vielleicht erzeugen sie eine existenzielle Angst, so dass ihnen absichtlich mit Ignoranz begegnet wird. Wer sich als traditioneller Künstler mit solchen Agnostizismen bewaffnet, wird sich heute aber in rasch zunehmendem Maße den Vorwurf gefallen lassen müssen, daß seine Kunst unreflektiert, von brute force regiert und weitgehend zufallsbestimmt ist.
Auch Bildgestaltung am Rechner setzt Begabung, zum Beispiel visuelle,
voraus. Ob der enormen Möglichkeiten der Bildgestaltung am Rechner
können und müssen solchen Begabungen aber verteilt werden. Damit
können Teams viel bessere und viel intelligentere Bilder, Filme, Plastiken
etc. als einzelne machen. Und sie unterliegen in digitalen Netzwerk-Zeiten
nicht dem Paradigma der weißen Leinwand und des white cubes, der
horror vacui bleibt ihnen erspart. Sie regiert ein Paradigma der Fülle,
bei dem die Schwierigkeiten eher beim Beschneiden und Einschränken
der unendlich vielen Möglichkeiten liegen.
Der große Duden, Band 1. Mannheim: Bibliographisches Institut 1967.
Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet unter der der Leitung von Wolfgang Pfeifer. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997(3).
Ernst H. Gombricht: Die Geschichte der Kunst. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 199616.
Stefan Heidenreich: Was verspricht die Kunst? Berlin: Berlin Verlag 1998
Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden. Band 15. Mannheim/Wien/Zürich: B.I.-Taschenbuchverlag 19903.
Sherry Turkle, Leben im Netz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998.
Wehrle-Eggers: Deutscher Wortschatz. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 196114.
Peter Weibel, "Transformationen der Techno-Ästhetik", in: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, hg. v. Florian Rötzer, Frankfurt a.M. 1991.
Oswald Wiener, Manuel Bonik und Robert Hödicke: Eine elementare
Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen. Wien / New York: Springer-Verlag
1998.